Staatsverschuldung als Herrschaftsstrategie

Von Mohssen Massarrat.* Die neoliberale Schule kritisierte heftig die keynesianische Wirtschaftspolitik, weil sie mit ihren kreditfinanzierten Staatsausgaben die steigende Staatsverschuldung verursacht und die Wirtschaft belastet habe. So wurde der Schuldenabbau, neben den zwei Säulen Wachstum und Beschäftigung, die dritte Säule der neoliberalen Strategie und zu einem wichtigen Postulat der neoliberalen Regierungen. Demgegenüber zeigt aber die Realität ein völlig anderes Bild. Die Schuldenquote der großen Industriestaaten ist seit 1975 bis 2013 teilweise sogar drastisch gestiegen. Das hat System.

In den USA stieg die Schuldenquote von 38 auf über 100%, in Deutschland von 20 auf 75%, in Großbritannien von 20 auf 85%, in Frankreich von 18 auf beinahe 100% und in Japan sogar von 30 sogar auf 240%. Nach vier Dekaden neoliberaler Wirtschaftspolitik muss gefragt werden, warum der keynesianische Staat mit seinen enormen Ausgaben für den Aufbau des Wohlfahrtstaates und den Wiederaufbau der Infrastruktur nach der flächendeckenden Zerstörung durch den zweiten Weltkrieg mit einer signifikant niedrigeren Schuldenquote auskam als der neoliberale Staat, der den Schuldenabbau auf seine Fahne schrieb und einen drastischen Sozialabbau betrieben hat?

Keine Frage, die Verschuldung ist ein grundsätzlich sinnvoller Mechanismus zur Mobilisierung gesellschaftlicher Ressourcen zur Wohlstandsvermehrung. Sie kann allerdings auch, wie dies in der Geschichte oft vorgekommen ist, zu Knechtschaft und Sklaverei führen, wenn die Geldverleiher zu mächtig werden und eine Monopolposition erlangen. Die Kredit finanzierte Staatsausgabenpolitik im keynesianischen Zeitalter hatte über weite Strecken tatsächlich zur Wohlstandsvermehrung beigetragen, sie war sogar der Haupthebel zur Mobilisierung von brach liegenden Ressourcen. Die Kreditnehmer haben mit Hilfe der öffentlichen Kredite hinreichend Wachstum generiert, die Schulden zurückbezahlt und auch zu steigendem Steueraufkommen beigetragen. Dieser produktive Geld-, Beschäftigungs- und Wachstumskreislauf geriet jedoch ins Stocken als in den 1980er Jahren das Wachstum in den hoch entwickelten Industriestaaten an Grenzen stieß, die diesen Kreislauf stoppten. Weitere öffentliche Kredite konnten nicht zu mehr Wachstum und Beschäftigung führen und auch nicht ein zusätzliches Steueraufkommen kreieren. Die Staatsverschuldung stieg folgerichtig am Ende der 1980er Jahre in allen kapitalistischen Staaten geringfügig an. Warum haben aber ausgerechnet jene Kräfte, die die Keule der steigenden Staatsverschuldung am stärksten gegen die keynesianische Politik schwenkten, diese Entwicklung nicht gebremst, vielmehr sie sogar bis zum Exzess vorangetrieben? Und das trotz systematischer Ausgabenkürzungen im sozialen Bereich.

Ein Blick auf die Besteuerungspolitik in den letzten Dekaden verweist auf eine wichtige Ursache der steigenden Staatsverschuldung. Die Langzeitstudie des französischen Ökonomen Thomas Piketty belegt beispielsweise, dass die Spitzensteuersätze des obersten Zehntels der Einkommensgruppen im Zeitraum 1980 - 2015 in den USA, Deutschland, Großbritannien und Frankreich von 55 bis 98 % auf 35 bis 52 % gesenkt worden sind. Eine ähnliche Besteuerungspolitik praktizierten die Regierungen dieser Staaten laut derselben Quelle offenbar schon Anfang des 20. Jahrhunderts. In den ersten zwei Dekaden jenes Jahrhunderts zahlten die höchsten Einkommensbezieher fast überhaupt keine Steuern. Die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Epochen, vor der ersten Weltwirtschafts- und Finanzkrise 1929 und vor der Finanzkrise in 2008, sind insofern verblüffend. Haben aber die so großzügig entlasteten Reichen und Unternehmer wenigstes in die Realwirtschaft investiert und Arbeitsplätze geschaffen? Mitnichten. Statt steigender Investitionsraten, was zu erwarten gewesen wäre, sanken diese in USA, EU und Japan zwischen 1980 und 2010 von 23 auf 17,5%.

Steigende Staatsverschuldung wurde in der Vergangenheit oft als Popanz für den Angriff auf den Sozialstaat instrumentalisiert. Beispielsweise hat der Finanzminister der rot-grünen Bundesregierung (1999-2005), Hans Eichel, den großen Konzernen Unsummen Steuergeschenke gemacht und gleichzeitig mit dem Slogan, die Staatsverschuldung sei das ’Unsozialste’, was es überhaupt gäbe, begonnen, den Sozialstaat umzukrempeln und sozialstaatliche Errungenschaften, die nach dem Krieg geschaffen worden waren, eine nach der anderen abzuschaffen. Man kann sich auch vor diesem Hintergrund des Eindrucks nicht erwehren, dass nicht der Abbau, sondern die Zunahme der Staatsverschuldung das eigentliche Ziel der Regierungen geworden ist. Diese liefert nämlich zum einen den scheinbar plausiblen Vorwand zum Sozialabbau. Und zum anderen wird der ’Verschuldete Staat’ gleichzeitig ein von der reichen Elite rigoros abhängiger Staat. Die Regierungen verschuldeter Staaten wagen so gut wie nie, die Reichenbesteuerung zum Zwecke der Haushaltssanierung überhaupt auch nur in Erwägung zu ziehen, während sie wie selbstverständlich an der Schraube der Ausgabenkürzungen im Sozialbereich drehen und die Kosten der Staatsverschuldung im Grunde auf die Allgemeinheit abwälzen. Die verarmte, verunsicherte und verängstigte Bevölkerung fügt sich in ihr Schicksal, entweder weil sie sich ohnmächtig fühlt, weil ihr der Schwindel erst bewusst wird, wenn alles längst gelaufen ist und sie resignierend feststellt, dass es zu spät ist, um dagegen Widerstand zu mobilisieren. Oder aber sie glaubt wirklich an die neoliberale Erzählung, eine reiche Minderheit müsse noch reicher werden, damit Arbeitsplätze entstehen und die arme Mehrheit müsse ihre Armut hinnehmen, um eine noch größere Armut zu verhindern. Eine nüchterne Beobachtung zeigt aber im Ergebnis, dass Schuldenmachen unter neoliberalen Vorzeichen seit den 1980er Jahren - im Gegensatz zu den Staatschulden in der keynesianischen Epoche der 1950er bis 1970er Jahre – für die überwältigende Bevölkerungsmehrheit eine strukturelle Schuldenknechtschaft hervorgebracht hat. Tatsächlich steht der Bevölkerung ein Finanzsektor gegenüber, der durchaus nicht überraschend parallel zum ’Verschuldeten Staat’ in den meisten kapitalistischen Staaten entstanden ist. Unter der Ägide des Finanzsektors wird die Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik der Regierungen nicht mehr durch Parlamente kontrolliert, sondern von der Finanzlobby diktiert. Insofern hat der Finanzsektor auch die demokratischen Kontrollmechanismen der Staatsfinanzen ausgehebelt und sich zu einem ernst zu nehmenden Feind für die Demokratie entwickelt.

Ist es nun zufällig, so muss gefragt werden, dass sich jetzt auch Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron entschlossen hat, den in Deutschland und anderswo eingesetzten Mechanismus ’Steuergeschenke an die Reichen und steigende Staatsverschuldung’ nachzuahmen: Bis zum Jahr 2022 soll nämlich der Steuersatz für Unternehmen von 33,3 auf 25 % schrumpfen und die Kapitalertragsteuer von 50 auf 20 % abnehmen. Dabei kann es Macron nicht ernsthaft um Investitionsanreize gehen. Französische Unternehmen schwimmen doch angesichts der dramatisch sinkenden Lohnquote von 65 % in 1980 auf 58 % in 2015 in überschüssigen Gewinnen. Sie habe aber diese Gewinne nicht in die Realwirtschaft, sondern in den Finanzsektor investiert. Daher dürfte es Macron zum einen um Steuergeschenke an Unternehmer gehen, wie wir sie auch in Deutschland kennen. Und zum andern will er durch Senkung der Unternehmensteuer und steigende Staatsverschuldung den auch in Deutschland erfolgreich eingesetzten Mechanismus für den flächendeckenden Sozialabbau und Aufhebung der gesetzlichen 35-Stundenwoche aktivieren, gegen den soziale Kämpfe nichts mehr ausrichten können. Denn Haushaltssanierung durch Abbau der Staatsverschuldung und „Gerechtigkeit gegenüber der jüngeren Generation“, das sind wirkungsmächtige propagandistische ’Waffen’, um den zu erwartenden massiven Widerstand vieler Franzosen gegen Macrons Projekt zu brechen und Jung gegen Alt, weniger Entschlossene gegen stark Entschlossene aufzuwiegeln und zu spalten. Das moralische Potential dieser ’Waffen’ ist stark genug, um einen Teil der arbeitenden Bevölkerung dazu zu bringen, letztlich sogar gegen eigene Interessen zu votieren. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus Deutschland, Großbritannien und anderen neoliberal regierten Staaten gilt es nun rechtzeitig schon jetzt den Schwindel ’Steuersenkung für Unternehmen und steigende Staatsverschuldung’ aufzudecken.

*Der Autor ist Prof. i. R. für Politik und Wirtschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück. Sein aktuelles Buch „Braucht die Welt den Finanzsektor“, auf das er sich mit diesem Beitrag bezieht, erschien Mitte September 2017 im Hamburger VSA-Verlag.

[27.9.2017]

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